Sehr geehrter Herr Bürgermeister
Vielen Dank für Ihre Zusendung vom 20. November des letzten Jahres. Sie betonen, dass Bildung eine Herzensangelegenheit der Sozialdemokratie ist. Das freut uns, denn Bildung ist auch eine Herzensangelegenheit der ≠igfem – Interessensgemeinschaft feministische Autorinnen, insbesondere die Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit aller Menschen unabhängig von Geschlecht. Daher möchten wir Ihnen unser Projekt vorstellen, das genau jene Ziele und Visionen in den Blick nimmt: die Erarbeitung einer feministischen Leseliste.
Derzeitige Lektüreempfehlungslisten für den Schulunterricht an österreichischen Schulen bestehen zu 88% bis 100% aus Werken männlicher Autoren. Feministische Narrative und eine differenzierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen weiblichen Lebensentwürfen und Identitäten über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart kommen darin so gut wie nicht vor. Tatsächlich ist es für Schüler*innen hierzulande ohne Weiteres möglich, zu maturieren, ohne im Unterricht je ein von einer Frau verfasstes Werk gelesen zu haben.
Dabei ist die Schule einer der wichtigsten Orte der Sozialisation – auch im Sinne einer gesamt-gesellschaftlichen Sozialisation durch Lesen. Geschichten erzählen vor allem jungen Lesenden, was sie sein und werden können in dieser Welt. Ihr Einfluss ist kaum zu überschätzen.
Aus diesem Grund ist es höchste Zeit, die Kanonisierung und Literaturgeschichtsschreibung für den Schulunterricht neu zu diskutieren und Werke in die Lektüreempfehlungen aufzunehmen, welche moderne, sinnvolle Rollenbilder für Mädchen und Frauen anbieten und historische Unterdrückungsmechanismen aufzeigen. Auch für die Buben und heranwachsenden Männer ist eine Aufarbeitung dieser förderlich, da auch sie in veralteten, patriarchalen und ungerechten Strukturen aufwachsen und ihr Einsatz für eine gerechtere Welt ebenso essentiell ist, wie Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein von Mädchen.
Aus diesen Überlegungen heraus erarbeiten wir von der ≠igfem – Interessensgemeinschaft feministischer Autorinnen gemeinsam mit einem Expertinnengremium eine Leseliste an Werken von Autorinnen, die an die Bildungsdirektionen der einzelnen Bundesländer und die Schulen selbst übermittelt werden soll.
Mit dabei sind bereits namhafte Expertinnen aus Literatur und Bildung wie Daniela Strigl, Susanne Hochreiter, Heidi Lexe, die Buchhandlung ChickLit, Katja Gasser, Evelyne Polt-Heinzl, die Büchereien Wien, Kirstin Breitenfellner, Christa Gürtler uvm. Nicht zuletzt streben wir eine Kooperation mit dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung an, zu dessen Grundsätzen auch Gleichstellung und Diversität zählen, welche allerdings im Literaturkanon der verschiedenen Schulen bis zur Oberstufe nicht real umgesetzt werden.
Sie haben es in Ihrem Brief bereits geschrieben: Bildungsgerechtigkeit für alle Menschen ist eines Ihrer höchsten Ziele. Das teilen wir und möchte Sie deshalb bitten, uns bei diesem Projekt durch Förderung oder bei der Verbreitung der Leselisten an Schulen zu unterstützen.
Mit freundlichen Grüßen
Gerlinde Hacker
≠igfem