Aufschrei und Aufruf – Rezension zu Störfeuer und WeissNet 2.3 von Dagmar Kaindl, Buchkultur
„Störfeuer“ und „WeissNet 2.3“: Erlesene Texte für eine gendergerechte Welt
Nicht hoch genug zu schätzen sind die Initiativen der Interessensgemeinschaft feministische Autorinnen, die Frauen einen geschützten und sie befeuernden Rahmen zur Verfügung stellt, in denen sie sich mit den brennenden Fragen unserer Zeit auseinandersetzen. Das Ergebnis ist ab sofort in der Gestalt zweier Anthologien erhältlich: „Störfeuer“ bündelt die in den Online-Schreiblaboren verfassten Prosatexte und Gedichte.
Fünfzig Autorinnen zwischen 17 und 77 schreiben da gegen die strukturelle Ungerechtigkeit (auch im Literaturbetrieb) an, der Frauen in aller Welt ausgeliefert sind. Auch die als Folge mehrerer Ausschreibungen der #igfem entstandene Edition „WeissNet 2.3“ versammelt sowohl Erzählungen bereits arrivierter Autorinnen als auch vielversprechende literarische Erstveröffentlichungen.
Die Themen haben sich seit Beginn der Frauenbewegung kaum verändert – was ein entlarvendes Licht auf unsere patriarchalen Gesellschaftsmuster wirft, unter denen wir immer noch oder wieder vermehrt leiden: die Schwierigkeiten, kreativ zu werden angesichts der Mehrfachbelastung durch Beruf, Kinder und Haushalt, der nach wie vor an den Frauen hängenbleibt. Die uralten Rollenklischees, in die wir zurückfallen, sobald Kinder da sind. Wie man in einen Teufelskreis aus Abhängigkeiten gerät. Über die Arbeitslosigkeit und Altersarmut, von der Frauen besonders betroffen sind. Von Trennung und Neuanfang und der in viel zu vielen Ländern nach wie vor praktizierten Genitalverstümmelung.
Texte gegen die Sprachlosigkeit in einer Welt, in der Frauen seit Jahrhunderten mundtot gemacht werden und nicht zu Wort kommen. Geschichten gegen das Schweigen einer Gesellschaft, die für (alte weiße) Männer gemacht ist. Über den Schmerz, den Mütter an ihre Töchter weitergeben, weil sich nichts verändert hat, und die Gewalt, der Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. Von den körperlichen und seelischen Narben, die davon zurückbleiben. Texte der Wut und der Trauer, der Ohnmacht und der Resignation, der Hoffnung und der Stärke weiblichen Zusammenhalts, die trotz allem immer wieder aufflackert und die sich nicht besiegen lässt.
Vor allem aber sind „Störfeuer“ und „WeissNet 2.3“ das: ein Aufruf und ein Auftrag an junge Frauen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht auszuruhen auf den Errungenschaften ihrer Vorstreiterinnen. Denn die mühsam erkämpften Frauenrechte laufen heute wieder Gefahr, gekippt zu werden. Ein Muss auch für Männer, denn ohne sie wird es nicht gehen: Veränderung muss durch alle Schichten der Gesellschaft geschehen und alle Genderidentitäten einbeziehen.
102 Männer und 17 Frauen wurden bisher mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Braucht es Feminismus in der Literatur und im Literaturbetrieb? – Diese Frage beantwortet sich nach der Lektüre von „Störfeuer“ und „WeissNet 2.3“ von selbst. Ein unverzichtbarer Beitrag für eine gendergerechte, friedliche (Um-)Welt – von beeindruckender literarischer Qualität und Kompetenz.
Dagmar Kaindl, Buchkultur
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Dagmar Kaindl/kurze Vita:
„Ich habe schon immer gerne gelesen – ein Leben ohne Bücher kann ich mir nicht vorstellen. Zu meinem Beruf als Kulturjournalistin und Literaturkritikerin bin ich dennoch fast zufällig während meines Studiums (der Germanistik, Theologie und Philosophie; leider nicht abgeschlossen) gekommen. Ich habe 23 Jahre lang das Buchresort der Zeitschrift NEWS geleitet, seit sieben Jahren schreibe ich für die Buchkultur. Die Arbeit wird nie langweilig, ganz im Gegenteil: Es gibt jedes Jahr so viele großartige Neuerscheinungen und Autor:innenzu entdecken und die Freude darüber ist nach wie vor ungebrochen und groß.
Warum es mir wichtig ist, bei der Erstellung einer feministischen Leseliste zu helfen:
In einer Welt, in der fünfzig Prozent der Bevölkerung nach wie vor als Minderheit behandelt werden, in der wir uns „mitgemeint“ fühlen sollen, wenn von Männern die Rede ist, in der Bücher von Männern immer noch weitaus häufiger verlegt, rezensiert, kanonisiert und gelesen werden als die von Frauen 1), ist es enorm wichtig, eine Plattform zu schaffen, die Autorinnen eine Stimme gibt und Mädchen und Frauen eine Identifikationsfläche bietet. Denn wer sich nicht repräsentiert sieht, nimmt sich zwangsläufig als nicht wichtig und wertlos wahr. Dem möchte ich gerne entgegenwirken, denn es ist hoch an der Zeit, auch im Sinne des Fortbestehens unseres Planeten, dass wir uns von patriarchalischen Denkmustern verabschieden und (schreibenden) Frauen und (nicht-binären Menschen) zu allen ZeitenGehör schenken, Gehör verschaffen und ihnen endlich den verdientenPlatz in der (Literatur-)Geschichte freischaufeln. Schulen und Bildungsanstalten kommt dabei eine große Verantwortung zu: Ihnen dafür Mittel etwa in Form einer feministischen Literaturliste zur Verfügung zu stellen, halte ich für eine ebenso dringliche wie unverzichtbare Aufgabe. Denn nur so kann sich etwas verändern hin zu einer gendergerechteren, inklusiven und nicht zuletzt freudvollerenWelt.“