Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Nehammer
Jüngst wurde in der Presse darüber berichtet, dass Sie in Ihrem sogenannten “Österreichplan”, den Sie an diesem Freitag in Wels präsentieren, unter anderem das Thema “Gendern” ansprechen und in weiterer Folge nach bayerischem Vorbild in der Verwaltung und an Universitäten das Gendern mit allen anderen Schreibweisen außer der ausgeschriebenen männlichen und weiblichen Form untersagen wollen. Diese “Grundsatzrede” markiert wohl den Beginn des Nationalratswahlkampfes.
Grundsätzlich gibt es gute Argumente für das Gendern in verschiedenen Schreibweisen. Zum Beispiel die Sichtbarmachung von Frauen in der Gesellschaft, aber auch die von rechts außen gerne als unterdrückt dargestellte Meinungsfreiheit und die angeblich dagegen agierende sogenannte “Sprachpolizei”. Außerdem werden in der binären Ausdrucksweise Personen außerhalb des binären Genderspektrums ausgeschlossen. Die oft angeführte Sperrigkeit in der Aussprache des Binnen-Is, des Sternchens oder des Doppelpunktes durch den sogenannten “Glottisschlag” unterscheidet sich nicht vom Aufwand bei der Aussprache des Wortes “The-ater”. Die Sperrigkeit der zweigeschlechtlichen, ausgeschriebenen Version verlängert jedoch sehr wohl jeden Text.
Nun hat aber das Theater um die Wahlen erneut begonnen und es wird notwendig, mit reißerischen und polarisierenden Themen auf Stimmenfang zu gehen. Wie bereits Beate Hausbichler in ihrer Kolumne im Standard vom 13. März 2023 schrieb, reden vor allem diejenigen gerne über die gendergerechte Sprache, die diese überflüssig finden – und um zu betonen, dass über nichts anderes geredet wird.
Also reden wir: Da wäre zunächst der Gender Pay Gap mit 35,5%, der unter anderem daraus resultierende Gender Pension Gap (Equal Pension Day 2023 war am 4. August) und der überwältigende Anteil an der unbezahlten Care-Arbeit. Im Kunst- und Kulturbereich sind die Zahlen noch dramatischer als im ohnehin schwindelerregenden Gesamtdurchschnitt: Hier liegen die Frauen im Schnitt 48,4% hinter den Männern zurück, außerdem wird auch in der Kulturszene ein überwiegender Teil unbezahlter Arbeit von Frauen übernommen.
Dazu kommen die Grausamkeiten, die Frauen in einer misogynen Gesellschaft sonst noch so zu ertragen haben, und zwar auf dem ganzen Spektrum: Alltagsdiskriminierungen, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz, psychische und physische Gewalt an Frauen in der Öffentlichkeit ebenso wie im privaten Umfeld und die Femizide, deren Zahlen sich in den letzten Jahren auf einem Rekordniveau gehalten haben (2023 gab es 27 mutmaßliche Femizide in Österreich).
Um all diese grundlegenden Missstände zu beheben, sind eine zukunftsweisende und nachhaltige Politik der Gleichberechtigung und Gleichstellung sowie grundlegende und weitreichende Maßnahmen in Gewaltschutz und Diskriminierungsprävention unerlässlich.
Ob diese in Ihrem “Österreichplan” vorkommen, sei zu diesem Zeitpunkt noch dahingestellt. Nehmen wir Sie, basierend auf Ihren Äußerungen auf X (vormals Twitter) zum letzten Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November beim Wort, kämpft die Bundesregierung “gegen jede Form der Gewalt an Frauen”. Laut Ihrem X (Twitter-)Account liegen Ihnen jedoch unter anderem auch die Lehrer/innen (10.12.16, 31.8.17), Kleinspender/innen und Steuerzahler/innen (28.8.17), Soldat/innen (25.1.17), ältere Arbeitnehmer/innen (5.1.18), Patient/innen (15.7.18) und natürlich vor allem die Wähler/innen (27.9.17) am Herzen. Sie wünschten den Kandidat/innen (26.6.22) bei der Wahl des “österreichischen Staatsoberhauptes” alles Gute und feierten das Jubiläum des Bundeskanzleramtes [sic!] mit mehreren ehemaligen Regierungschef/innen (6.12.23).
Wir von der ≠igfem – Interessensgemeinschaft Feministischer Autorinnen wünschen uns jedenfalls eine:n Bundeskanzler:in und eine Bundesregierung, die die wahren Probleme anpackt und nicht mit Ablenkungsmanövern auf Stimmenfang geht.
Mit freundlichen Grüßen
Gerlinde Hacker
Präsidentin
≠igfem – Interessensgemeinschaft feministische Autorinnen